Bethlehem im Jahre Null

von Paula Roose

Niemals würde Aaron diese eine Nacht vergessen. Er hatte nicht schlafen können. Stunden schon lag er wach, aber er wagte nicht, die Augen zu öffnen. Es war dunkel, nicht nur ein bisschen, nein. Man sah die Hand vor Augen nicht. Aaron hasste das. Er hatte Angst im Dunkeln. Obwohl er schon zwölf Jahre alt war und zu den Erwachsenen zählte. 

Wenn der Mond ins Zimmer schien, dann ging es. Er konnte Konturen erkennen. Das genügte.

Aber heute war der Mond hinter einer dicken Wolke verborgen.

 

Früher hatte Mama in solchen Nächten eine kleine Lampe ins Zimmer gestellt. Doch Lampenöl war teuer. Seit sein Vater Streit mit den Römern hatte, bekam er bei ihnen keine Arbeit mehr. Darum war er Hirte. Hirten sind dumm, sie stehlen und stinken, so sagten sie in der Schule und niemand wollte mehr neben Aaron sitzen. Auch sein bester Freund Josef sprach nur noch heimlich mit ihm. Das tat am meisten weh.

Aaron lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge seines Bruders. Benjamin hatte keine Angst im Dunkeln, obwohl er zwei Jahre jünger war. Auch deshalb sagte Aaron wegen der Lampe nichts. Mama hatte gefragt. Aber was nützte es? Sie hatten kein Geld für Lampenöl, also gab es keins. 

 

Papa sagte immer, der Messias würde bald kommen. Der schmeißt die Römer raus und Israel wird wieder ein Staat. Dann bekommt er eine bessere Arbeit. Gott hatte es versprochen — vor 700 Jahren. Aber sieben, so sagte Papa, sei eine heilige Zahl und jetzt würde es wirklich nicht mehr lange dauern.

Aaron seufzte. Er öffnete vorsichtig die Augen und schloss sie ganz schnell wieder. Vielleicht war er blind? Ach Quatsch. Wenn er doch nur schlafen könnte.

 

Papa war jetzt draußen. Er musste die Schafe hüten. Mitten in der Nacht. Wenn ein Wolf ein Schaf riss, wurde es von seinem Lohn abgezogen. Dann hatten sie für lange Zeit weniger zu essen. Doch mehr Sorgen machte Aaron der Gedanke, dass ein Wolf seinen Vater angriff. Schnell an was anderes denken.

 

Plötzlich wurde es hell im Zimmer. Nicht taghell, eher so wie in einer Vollmondnacht. Aaron setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Wolken waren verschwunden. Durch das Fenster konnte er den Mond sehen.

Aaron wollte sich hinlegen und endlich schlafen — da wurde es noch heller. Als hätte jemand vor ihrem Haus tausend Öllampen angezündet. Verwundert stand er auf und ging zum Fenster. Der östliche Nachthimmel war hell erleuchtet — genau dort, wo sein Vater die Schafe hütete.

 

»Was ist denn draußen los?«, hörte er Benjamin schlaftrunken flüstern. »Warum ist es hier so hell?«

»Keine Ahnung«, antwortete Aaron leise. »Es ist der Himmel.«

Benjamin tauchte neben ihm auf. »Da ist doch wohl kein Feuer?«

»Glaubst du echt?« Aaron schlug das Herz plötzlich bis zum Hals. »Wollen wir nachsehen?«

»Wir dürfen nachts nicht raus.«

Das helle Licht erlosch. Mondlicht erfüllte wieder das Zimmer. Von draußen drangen Geräusche herein. Sie hörten Stimmen, die langsam näher kamen. Gebannt starten die beiden Brüder aus dem Fenster.

»Das sind die Hirten«, rief Aaron. »Siehst du es? Es sind die Hirten.«

»Das kann nicht sein.« 

»Schau mal! Dort ist Papa! Er trägt ein Lamm auf den Schultern.«

»Aber die Hirten dürfen die Herde nicht verlassen. Was machen die hier bloß?«

Die Jungs schauten sich an.

»Komm«, sagte Aaron. »Wir sehen nach, was da los ist.«

»Aber wir dürfen nicht raus.«

 

Aaron nahm seinen Bruder an die Hand und zog ihn mit sich. Sie schlichen hinaus und folgten ihnen — im sicheren Abstand, damit sie nicht entdeckt würden.

Vor einem Stall hielten die Hirten, schüttelten sich den Staub von den Füßen und traten ein.

Aaron und Benjamin lugten durch die Tür. Eine junge Frau saß dort. Sie stillte ein Kind. Neben ihr hockte ein Mann. Er hatte den Arm um sie gelegt.

Aarons Vater legte das Lamm vor ihnen nieder. Für die Moment schwiegen sie, dann sanken die Hirten auf die Knie und senkten die Köpfe. Die Frau fragte etwas und die Hirten antworteten.

Aarons Blick hing an den Lippen der Frau.

»Hat sie das Baby hier im Stall bekommen?«, fragte Benjamin, alle Vorsicht vergessend, nicht entdeckt zu werden. »Warum kniet Papa vor ihr?«

 

»Er kniet nicht vor der Frau«, antwortete Aaron. »Hör doch zu, was sie sagen. Sie knien vor dem Baby.«

Aaron löste sich von Benjamin und ging zu seinem Vater. Gebannt schaute er auf das Kind. Es trank wohlig schmatzend — doch plötzlich hielt es inne und drehte den Kopf. Große braune Augen schauten ihn an. Wirklich. Das Baby schaute ihn an. Und Aaron fühlte, wie sein Blick ihn ins Herz traf.

»Ist er es?«, fragte er flüsternd seinen Vater.

Dieser nickte. »Ein Engel hat es uns gesagt. Er ist der Messias. Er bringt endlich den Frieden.«

Da sank auch Aaron auf seine Knie.

 

Über dreißig Jahre war das nun her.

Aaron stand am Rand der aufgebrachten Menge und beobachtete das Geschehen. »Kreuzigt ihn!«, schrien sie. »Kreuzigt ihn!«

Ein Mann stieß ihm in die Rippen. »Los, mitschreien! Oder willst du Ärger?«

Schnell verschwand Aaron in der Menge und drängte sich nach vorne. Er sah zu dem Gefangenen, dessen Tod gefordert wurde. Der Mann blickte auf und sah ihn an. Sein Blick traf Aaron ins Herz. Er kannte diese Augen. Nie hatte er sie vergessen. Ihr dürft ihn nicht töten. Er ist der Messias. Der Engel hat es gesagt.