Gans oder gar nicht

von Anke Höhl-Kayser

Guten Tag, Frau Doktor. Gans, angenehm. Sie kennen mich sicher aus dem Märchen der Gebrüder Grimm.
Ja, die Federn sind wirklich aus Gold, und nein, bitte nicht anfassen. Ich weiß nicht, ob Sie reif sind für die Konsequenzen.
Warum ich ausgerechnet Sie aufsuche?
Na, nun staune ich aber. Draußen auf dem Türschild steht: Fachärztin für gansheitliche Medizin.
Da bin ich doch bei Ihnen genau an der richtigen Adresse!
Wieso habe ich da was falsch gelesen?
Naja, ein Buchstabe! Das kann man doch auf die Rechtschreibreform schieben. Nun bin ich schon mal hier, vielleicht können Sie sich mein Problem wenigstens anhören.
Es ist immer das Gleiche. Alle schauen nur auf mein Äußeres und bleiben daran hängen. Und wie ist es dazu gekommen?
Ich lag also wie immer seit zweihundert Jahren in selbstauferlegter Klausur friedlich unter meiner Wurzel, und dann erschien auf einmal dieser Idiot und fällte den Baum.
Nein, ich sage doch: ein Idiot! Nun hören Sie aber bitte mit diesen Wortklaubereien auf, was interessiert es mich, ob es sich um eine entwicklungsverzögerte Person handelte! Benommen hat er sich jedenfalls wie ein Depp. Raten Sie mal, wie er mir sein Tun erklärt hat: Das habe ihm ein Männlein empfohlen.
Wer sagt denn heutzutage noch Männlein, frage ich Sie? Das ist so ähnlich, als würde ich von meinem Schniedelwutz reden! Genauso peinlich, genauso deplatziert.
Vielleicht wollte er mit diesem infantilen Gerede aber auch nur seine Straftat verharmlosen. Das Kidnappen. Und er verfolgte auch noch andere, sehr befremdliche Absichten. Er sagte nämlich: „Ich muss aufs Ganse gehen.“
Ach, Sie meinen, das ist schon wieder dieser Rechtschreibfehler wie vorhin? Ich gestehe, ich hatte das für ein Lispeln gehalten. Jeder über vier Jahre, der Männlein sagt, ist auch zu Schweinigeleien fähig!
Aber zurück zum Anfang: Er riss mich also – ich sage nur: ohne viel Federlesens - unter meiner Wurzel fort und zog mit mir los.
Ich frage mich immer noch: Hat der sich nicht mal Gedanken darüber gemacht, warum so eine goldene Gans unter einer Wurzel liegt? Für so was gibt es doch Gründe.
Aber dann wäre er ja kein Idiot gewesen. Er war jedenfalls entsprechend überrascht, als sich mein Problem offenbarte.
Ich habe das eingangs angesprochen. Wissen Sie, ich rede nicht gern darüber. Bitte sehen Sie mich nicht so an! Ich bin doch auch sensibel. Ich enthülle Ihnen hier mein Kindheitstrauma, und Sie starren nur.
Hinter all meiner goldenen Schönheit verbirgt sich ein furchtbares Geheimnis.
Es hat nichts mit mangelnder Körperhygiene zu tun! Es fing schon im Nest an, als ich noch ein Ei war. Was für eine Qual, nach jedem Brüten, bis meine Mutter mich losbekam …
Verurteilen Sie mich nur nicht deswegen! Es gibt schwarze Gänse und weiße Gänse, und es gibt goldene Gänse mit Adhäsionshintergrund. Ich bin klebrig, und ich möchte akzeptiert werden, wie ich bin.
Nun hat mich also dieser – entwicklungsverzögerte – Typ in die Stadt geschleppt, und dort versuchten mich alle anzutatschen. Der Filialleiter vom Supermarkt wollte angeblich kontrollieren, ob ich mich als Deko für die Metzgereiabteilung eigne. Der Pfarrer war überzeugt, ich sei eine Figur aus dem Krippenbild. Ich hasse diese heutige Wühltischmentalität, sie ist so unmanierlich und entwürdigend. Was ist das denn für eine Entschuldigung? Ich stelle Ihnen ja auch nicht meine Schwimmfüße ins Gesicht, nur weil Sie so wunderbare Augen haben, die mich ans Wasser eines Sees erinnern!
Was ich da an Ihren Oberschenkeln mache? Das nennt man zielgerichtetes Gründeln. Wir versuchen hier schließlich, der Sache auf den Grund zu gehen, oder nicht?
Der Filialleiter vom Supermarkt, der Pfarrer und noch ein paar andere konnten also ihre Finger nicht von mir lassen, obwohl ich sie gewarnt hatte. Keiner wollte auf mich hören, und so passierte es: Alle hingen an mir dran.
Grinsen Sie etwa? Das fände ich unpassend. Sie verhalten sich genau wie der Sohn des Bürgermeisters. Früher waren es wenigstens Prinzessinnen, heute sind es Bürgermeisterssöhne. Um ins Klischee zu passen, natürlich schwul. Er hatte sich, wie ich später erfuhr, jahrelang in einer schwer depressiven Phase befunden. Nichts hatte ihm Vergnügen bereiten können – bis zu dem Moment, als er den – entwicklungsverzögerten – Typen mit mir unter dem Arm und den angeklebten Leuten ankommen sah. Auf einmal fing er an zu lachen, als ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte, und der – Sie wissen schon – der Typ lachte mit. Völlig bescheuert. Man merkte sofort: Die beiden waren auf einer Wellenlänge. Kein Wunder, dass sie ein paar Monate später geheiratet haben!
Der Bürgermeister war ja verständlicherweise nicht so begeistert, bloß - was will man da machen. Sein Pech, falsches Jahrhundert, falscher Beruf, falsches Geschlecht des Kindes. Zweihundert Jahre früher und als König geboren, aber so?
Sie fragen, wie es weiterging? Bis zum bitteren Ende ging es weiter.
Der Id… – also, der Typ meinte nun, ich sei ihm nützlich genug gewesen und könne wieder gehen. Außerdem würde ich seine Ehe stören mit meinem Kleben und dem Gründeln an seinem Mann. Mal ehrlich, wo hätte ich denn sonst kleben und gründeln sollen?
Das war es also. Meine Schönheit hatte ausgedient, und den Rest wollten sie nicht. Ich habe mich auf den Rückweg gemacht, habe mich, so gut es ging, zwischen den Wurzeln des gefällten Baumes eingerichtet – aber wie sich dann herausstellte, hatte ich mich durch diese Episode völlig verändert.
Ich war unglücklich in meiner Einsamkeit.
Niemand klebte mehr an mir. Verstehen Sie das Problem? Ich wollte nicht ungebunden sein.
Ich hatte mich immer davor zurückgezogen, weil ich wusste, was passieren würde. Ich fühle mich so elend. Diese Haftkraft. Das fehlt mir. Dass jemand zu mir sagt: „Ich hänge an dir“, und nicht nur meinen Körper meint.
Moment mal, Frau Doktor – was tun Sie da? Sie starren so – Sie strecken die Hände aus …
Oh nein. Meine Teuerste – tun Sie das nicht. Ich habe genug gelitten! Wie soll ich es ertragen, wenn Sie mich wie alle anderen nur wegen meines glänzenden Gefieders begehren!
Vergessen Sie nicht die verwundbare Seele darunter! Wenn Sie mich lieben wollen, dann nur als ganze Gans!
Sie meinen es wirklich ernst? Sie sind sich ganz sicher?
O Liebste, willst du das ganze Kleben mit mir verbringen?
Bis dass der Tod uns löse!

 

©Anke Höhl-Kayser, Abdruck mit freundlicher Genehmigung