Erlöst

von Paula Roose

Leonie drückte die Haustür hinter sich zu. Sie stieg über Johanns Schuhe hinweg, stellte die Tasche auf die Dielen und hängte ihren Mantel an die Garderobe. Müde wehrte sie Taylor ab, der unaufhörlich um ihre Beine tänzelte, bis er schließlich kläffend eine Begrüßung einforderte. Sie tätschelte kurz seinen Kopf, als sie ihre Schuhe auszog.

»Bist du es?«, tönte es aus dem Wohnzimmer.

Wer sonst?

Johann lag auf dem Sofa und steuerte auf seinem Tablet ein Autorennen. Nebenbei lief der Fernseher.

»Bist du schon lange hier?«, rief Leonie zu ihm hinüber und räumte ihren Einkauf in den Kühlschrank.

»Nein, bin auch gerade gekommen.«

»Hast du länger gemacht? Ist doch schon fünf.«

»Nein, ich ... boah, beinahe hätte er mich gehabt.«

»Hättest du nicht die Spülmaschine anstellen können?«

»Wollte ich gerade.«

Leonie schaffte Platz für den letzten Joghurtbecher. Ein heißer Tee, die schmerzenden Füße hochlegen, einfach nichts tun – nach zehn Stunden Schicht und auf dem Heimweg Schlange stehen bei Aldi.

»Was hast du zum Essen geplant?«

Leonie seufzte leise. »Ich wollte Schnitzel braten mit Kartoffeln.«

»Klingt gut.«

»Kannst du die Kartoffeln schälen?«

»Äh ... ja, mach ich gleich.« Johann bewegte mit zusammengepressten Lippen sein Tablet ruckartig hin und her.

Leonie schaute ihm einen Moment zu. Dann holte sie eine Dose Bohneneintopf aus dem Schrank und stellte den Herd an. Ihr knurrender Magen weigerte sich, auf gleich zu warten. Gleich war ein Zeitpunkt, der niemals eintrat.

Als der Tisch gedeckt war und der dampfende Eintopf zwischen den Tellern stand, legte Johann sein Tablet zur Seite. »Oh, du bist ja schon fertig. Gibt es doch kein Schnitzel?«

»Ohne Kartoffeln?«

»Hättest doch was sagen können!«

 

Eine Weile löffelten sie schweigend die Suppe. Für Dosenfutter schmeckte es gar nicht so schlecht. Der weichende Hunger nahm ein wenig von Leonies schlechter Laune mit sich.

»Willst du heute Nacht den Blutmond sehen?« Johann hatte seinen Löffel beiseitegelegt und schaute sie an.

Leonie wich seinem Blick aus. »Blutmond? Ein Horrorfilm, oder was?« 

»Nein. Mondfinsternis. Der Mond scheint blutrot. So zwischen zwei und drei soll das laufen. Kam im Fernsehen.«

»Heute Nacht?«

»Ja. Ein echtes Naturschauspiel.«

»Ich muss früh raus.«

Johann wandte sich wieder seiner Suppe zu. »Ich habe auch keine Lust.«

»Warst du schon mit dem Hund?«

»Mach ich gleich.«

 

Dreißig Minuten später leinte Leonie Taylor an und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie warf Johann noch einen Blick zu, der wieder in sein Tablet-Autorennen vertieft war. Ob sie ihn bitten sollte, den Tisch abzuräumen?

»Taylor, komm!«

 

Draußen war es mild, beinahe zu warm für einen Mantel. Leonie schritt um den Reihenhausblock herum und am Teich vorbei. Hier, an der Hauptverkehrsstraße, waren viele Autos unterwegs aber nur wenig Fußgänger. Niemand würde es sehen, wenn sie Taylors Hinterlassenschaft liegen ließ. Für den Wald war sie heute zu müde. Dabei müsste sie nur über die Straße gehen.

Morgen wieder. Da hatte sie keinen Einkauf.

Taylor wanderte mit seiner Nase ekstatisch über den Grünstreifen. Sein Eifer rang Leonie ein Lächeln ab. Sie ließ ihren Blick über die Autos hinweg schweifen, bis hin zum Grün des Waldrandes.

Dann sah sie es. Nein, nicht zum ersten Mal, aber ...

Zwischen Straße und Kiefern stand ein Haus. Die Fassadenfarbe war abgeblättert, im Fenster hing ein Vorhangsfetzen und am verrosteten Tor zur Hofauffahrt prangte ein rotes Schild: Vorsicht! Bissiger Hund!

Wer um alles in der Welt wohnte dort, ohne Nachbarn, ohne Weg? Sie hatte sich schon manches Mal über dieses Haus gewundert. Aber heute – war es eine Sinnestäuschung? Sie starrte hinüber und es schien, als starrte das Haus zurück, als streckte es sich mit langen Fingern nach ihr aus und suchte sie zu greifen. 

Im Fenster flackerte eine Kerze.

»Komm, Taylor!«

 

Der Tisch war abgeräumt, als Leonie wieder nach Hause kam. Sie füllte Taylors Napf mit Futter. Dann legte sie sich neben Johann aufs Sofa und folgte den Heute-Nachrichten.

Johann hatte sein Tablet für das Fernsehprogramm zur Seite gelegt.

Irgendwo in der Welt war eine Seuche ausgebrochen.

»Hast du schon mal das Haus gesehen?«, brach Leonie das Schweigen.

»Was meinst du?«

»Gegenüber am Waldrand.«

»Da ist ein Haus?«

»Es scheint dort sogar jemand zu wohnen. Ist doch merkwürdig, so allein.«

»Ja, weiß ich auch nicht.«

Im Fernsehen wurde über den Blutmond berichtet.

»Vielleicht schaue ich ihn mir doch an«, sagte Johann und griff wieder nach seinem Tablet. »Kommt ja nicht so schnell wieder.«

 

Um neun ging Leonie schlafen. Johann wollte gleich nachkommen.

Sein Schnarchen weckte sie. Dachte sie. Aber es war nur das erste Geräusch, das durch den Traum zu ihr drang. In sein unrhythmisches Rasseln mischte sich ein Heulton – Taylor. Leonie war mit einem Schlag hellwach. Verdammt. Was war mit dem Köter los?

Seufzend kroch sie aus dem Bett und torkelte nach unten.

»Was hast du denn? Komm mal her?«

Taylor lag in seinem Korb.

»Na komm!«

Hechelnd schaute er zu ihr herüber.

Die Zeiger der Uhr zeigten auf zwei.

Einem Impuls folgend schlüpfte Leonie in Mantel und Schuhe, griff Taylors Leine und rief ihn erneut. Er kam nicht. Schließlich holte sie ihn und zog ihn hinter sich hinaus.

 

Über dem Weg lag ein leichenfahler Mondlichtschleier. Vom Blutmond war auf dieser Seite der Häuserreihe nichts zu sehen, aber die Nachtluft weckte Taylors Lebensgeister. Er lief vor, zerrte an der Leine und zog Leonie einer heißen Fährte entlang hinter sich her.

Leonie folgte ihm bis zum Teich. Taylor stimmte abermals sein Wolfsgeheul an. Erschrocken schaute Leonie zu den Reihenhäusern. »Pssst!«

Dann sah sie ihn. Zuerst nur das Spiegelbild, das vom bewegten Wasser verzerrt wurde. Darüber stand unwirklich groß der Blutmond am Himmel und es schien, als wollten sich der Mond und sein Abbild zu einer Brücke vereinen.

Brücke, dachte Leonie und spürte Sehnsucht in sich aufkommen.

Das Wasser bewegte sich heftiger. Mitten aus dem Mondspiegelbild zogen sich Kreise über die Oberfläche, als würde der Mond bluten und die Tropfen in den Teich fallen. Ein Kreis nach dem anderen entstand, immer schneller werdend steigerte sich das Schauspiel zu einem Tanz über den Teich.

Leonie spürte, wie Taylor sich hinter sie stellte. Aber sie beachtete ihn nicht. Ihr Blick war von dem Treiben gefangen – bis es in ihrem Innersten zu einem Ruf wurde.

Sie wollte wissen, woher die Kreise kamen. Und dann tat sie es. Sie streifte Mantel und Schuhe ab und stieg im Nachthemd in den Teich.

Mit langen Zügen schwamm sie zur Quelle der Wasserkreise ins Zentrum des Blutmondspiegelbildes hinein. Kaum hatte sie es erreicht, wurde sie von einem Strudel erfasst und in die Tiefe gerissen.

Schlagartig erwachte sie aus der Trance, kämpfte mit Armen und Beinen gegen den Sog, aber der Wirbel drehte sie im wilden Kreis und raubte ihr jeden Gedanken.

Bis auf einen – Luft!

Es ging tiefer und tiefer. Im Schwindel ergab sie sich dem Schraubstock, ergab sich dem Lufthunger, ergab sich ... Urplötzlich spuckte der Strudel sie aus.

Das Wasser war klar. Leonie befand sich vor einem rostigen Gitter. Panisch rüttelte sie an den Stäben. Wie auf Kommando öffnete es sich. Leonie schwamm hindurch, kämpfte gegen das Schwarz vor ihren Augen, kämpfte gegen die Besinnungslosigkeit – und gelangte wieder an die Oberfläche. Verzweifelt rang sie nach Luft.

War es die Erschöpfung oder hatte sich tatsächlich ihr Atem beruhigt? Sie wusste es nicht. Ihre Hände krallten sich irgendwo fest, als das Gefühl des Lufthungers langsam wich.

Erst allmählich begriff sie, dass es ein Handlauf war. Sie befand sich in einem Schwimmbecken unter einem Kellergewölbe. An der Treppe stand ein grauhaariger Mann und lächelte sie an.

Er hielt ein Handtuch ausgebreitet – wie eine Mutter, die ihr Kind nach dem Baden einwickeln will.

»Schön, dass du da bist«, sagte er freundlich. »Ich habe auf dich gewartet.«

Leonie presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und starrte ihn an. »Wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?«

»Komm doch erst mal heraus.«

Sie schaute auf das Gitter, durch das sie gekommen war. Es war wieder verschlossen. Zögerlich stieg sie die wenigen Stufen hinauf.

Der Mann legte ihr lächelnd das Handtuch um die Schultern, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ich zeige dir das Haus.« Er wandte sich ab und ging auf eine eiserne Tür zu.

Leonie starrte ihm nach. Die Tür schwang auf, und erst als der Mann dahinter verschwand und sie wieder zuzufallen drohte, beeilte sich Leonie, hinterher zu kommen. Sie stieg die knarzende Treppe hinauf, folgte ihm durch den engen Flur ins Wohnzimmer. Ein abgewetztes Sofa und ein raumfüllender Eichenschrank standen dort.

Die Möbel erinnerten Leonie an ihre Großmutter. Jene Großmutter, die nie ein freundliches Wort für sie übrig gehabt hatte.

Der Mann deutete durch die Terrassentür auf den Garten. »Dort wächst Gemüse und rechter Hand befindet sich ein kleines Weizenfeld. Man muss immer etwas Samen zurückbehalten. Für das nächste Jahr. Im Hühnergehege gibt es Eier und Fleisch.«

Leonie schaute hinaus. »Sie wohnen wohl schon lange hier?«

Er nickte.

Am Ende des Gartens begann der Wald. Plötzlich begriff Leonie, dass es das Haus an der Straße war. Sie atmete auf und wickelte sich das Handtuch wie ein Kleid um den Körper.

Der Mann beobachtete sie. »Komm mit! Ich zeige dir das Schlafzimmer.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in den Nebenraum und öffnete einen klobigen Schrank. Leonie folgte ihm unwillig.

»Hier findet man etwas zum Anziehen.«

Es waren Kleider darin, aber sie schienen für Leonie ein wenig zu schmal zu sein.

»Danke«, antwortete sie. »Ich wohne nicht weit.«

»Mit der Zeit passen sie schon.«

Leonie warf ihm einen Blick zu. Aber sie wagte nicht zu fragen, wie er das meinte.

Der Mann nickte ihr zu und ging in die Küche.

Baumarktküchenstühle mit abgenutzter Sitzfläche standen um einen Holztisch. In der Ecke lag ein schwarzer Labrador und schlief. Leonie dachte an das Schild am Tor. Mit klopfendem Herzen blieb sie im Türrahmen stehen. Durch das Fenster sah sie die Straße – und Taylor hinter dem Teich, der schwanzwedelnd aufs Wasser starrte.

»Ich gehe dann mal«, sagte sie erleichtert.

»Ich zeige dir den Hof.« Die Haustür führte direkt von der Küche zur Ausfahrt. Kaum hatte der Mann die Klinke berührt, sprang der Hund auf und folgte ihm.

Der Morgenwind der Dämmerung wehte herein. Leonie fröstelte ein wenig. Sie wurde sich ihres absurden Aufzugs bewusst. Aber es dauerte nicht mehr lang. Nur noch ein paar Schritte über die Straße. Wer sollte sie um diese Zeit sehen außer den paar Autofahrern, die zum Frühdienst unterwegs waren?

»Der Hund darf nicht über die Schwelle. Er verscheucht die nächtlichen Besucher«, sagte der Mann und winkte Leonie nach draußen. Er leinte den Labrador an und drückte ihr den Riemen in die Hand.

Zögerlich ließ Leonie die Nähe des Hundes zu. »Nächtliche Besucher?«

»Bleib einfach im Haus.«

»Ich muss jetzt wirklich gehen.«

In den Augen des Mannes blitzte etwas auf, das Leonie nicht zu deuten wusste. Er stieg in sein verstaubtes Auto und kurbelte das Fenster hinunter. Stotternd ließ sich der Motor von ihm starten. Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor.

Endlich!

»Wo fahren Sie hin?«, fragte Leonie.

Sein Gesicht bekam einen eigenartigen Ausdruck.

Lauf!, hörte sie eine innere Stimme. Weg! Runter vom Hof.

In den Reihenhausfenstern sah sie ein Licht angehen. Johann war erwacht.

Leonie stand wie angewurzelt.

»Danke«, sagte der Mann, ließ die Kupplung kommen und steuerte das Auto über die Schwelle.

Das Tor begann, sich wieder zu schließen. Das löste Leonies Bann. Sie eilte hinterher, versuchte noch durchzuschlüpfen ... vergeblich. Krachend fiel es ins Schloss.

Leonie rüttelte am Gitter. »Was soll das?«

»Das Haus braucht eine Seele.« Ohne sie anzusehen, kurbelte der Mann das Fenster hoch und brauste mit quietschenden Reifen davon.

Leonie versuchte über das Tor zu klettern und rutschte ab. Wild winkend schrie sie den vorbeifahrenden Autos im anschwellenden Morgenverkehr hinterher.

Sie sahen sie nicht. Auch nicht das eine, das direkt vor der Ausfahrt hielt. Der Fahrer wühlte im Handschuhfach. Einige Autos stauten sich hinter ihm. Die Fahrer hupten, gestikulierten und zogen vorbei.

Plötzlich entdeckte sie in der Schlange auch den Mann wieder – mit blitzblankem Fahrzeug. Sein Lächeln wirkte erlöst.

Er winkte ihr zu. Sie winkte zurück und wartete, dass das Tor sich öffnen würde und er zurückkehrte.

Doch er fuhr vorbei und ließ sie im Staub stehen.

Gegenüber tauchte Johanns Silhouette im geöffneten Fenster auf. Er schien Taylor entdeckt zu haben.

»JOHANN!«

»Taylor!«

Leonie krallte sich am Gitter fest. »JOHANN!«

Er schloss das Fenster. Hatte er sie gesehen?

Er kommt.

Er holt mich.

Gleich.

 

©2016 Paula Roose

 

Die Geschichte "Erlöst" ist in der Anthologie "Roter Mond" erschienen und wird dauerhaft gratis angeboten.

Der Blutmond - den Menschen ein dunkles Omen, geheimnisvoll und magisch. Grenzen verschwimmen, Tore öffnen sich, verborgene Kräfte erwachen. Die Nacht wird zum Schatten einer anderen Welt.

 

Dieses Buch lädt ein zur abenteuerlichen Reise unter dem roten Mond, zu Mythen, fremden Wesen und dunkler Magie.

 

 

Coverdesign Yvonne Less www.art4artists.com.au

unter Verwendung von depositphotos.com-big-bloody-red-moon

 

Neun Autorinnen präsentieren in bislang unveröffentlichten Kurzgeschichten die fantastischen Seiten der Mondfinsternis - von bittersüß bis bitterböse. Mit spannenden, mystischen, heiteren und mitreißenden Beiträgen von Klara Bellis, Anke Höhl-Kayser, Monika Kubach, Ardy K. Myrne, Birgit Otten, Paula Roose, Katja Rostowski, Susanne Schnitzler und Andrea Tillmanns

 

Hier erhältlich:

Amazon

Thalia