Irinas Herbst

von Katherina Ushachov

Herbst. Das ist für Irina immer die Zeit, in der ein Stück von ihr selbst stirbt. In der sie damit beschäftigt ist, ganz und gar ein Eichhörnchen zu sein – etwas, das im urbanen Frankfurt für die verfluchte Fee die einzige Möglichkeit ist, zu überleben.
Geschäftig sammelt sie Eichel um Eichel und vergräbt sie im Park. Buntes Laub raschelt bei jeder ihrer flinken Bewegungen.
Ein Geräusch, das sie in ihrer Zeit als Fee mit Freude erfüllt hat, damals, als der Herbst bedeutet hat, die unzähligen Rituale durchzuführen, um die bösen Geister davon abzuhalten, die Erde zu überfallen. Sie fragt sich, wie viele ihrer Schwestern es noch gibt und ob sie eifrig genug am Werk sind. Wenn sie sich anschaut, wie die Welt von Jahrhundert zu Jahrhundert mit mehr Neid und Missgunst erfüllt wird, glaubt sie, die letzte Fee zu sein.
Und plötzlich ist der goldene Herbst mit seinen bunten Blättern, den würzigen Düften, den herrlich orangen Kürbissen und dem anderen bunten Gemüse nur noch grau und trist. Sie ist ganz bestimmt die letzte Fee. Und sie hat es in all den Jahrhunderten nicht geschafft, einen Schützling zu finden und aus einer unlösbaren Misere zu retten.
Die Menschen sind genauso grau, wie Irina die Welt plötzlich erscheint. Genauso wie Irina, scheinen sie nur damit beschäftigt, unnötigen Besitz anzuhäufen – indem sie in die Läden gehen und mit vollbeladenen Einkaufswagen und berstend vollen Taschen wieder zu ihren lauten, stinkenden, viel zu schnellen Autos gehen.
Kaufen, besitzen, horten. Und das, obwohl sie mehr haben, als Irina in all den Jahrhunderten ihres Daseins besessen hat.
Und auf einmal leuchtet eine Gestalt inmitten des Graus golden hervor. So golden, dass Irina die Pfötchen vor die Augen pressen muss, um es zu ertragen und dabei die Eichel fallenlässt. Ein potentieller Feenschützling.
Irina schüttelt ihre Benommenheit ab – sie muss hinterher!
Die Eichel ist vergessen und ihre Eichhörncheninstinkte beiseitegedrängt. Auf keinen Fall darf sie die Gestalt aus den Augen verlieren! Eilig sprintet sie einen Baum am Straßenrand hoch, um einen Überblick zu erhalten.
Da! Der goldene Schimmer biegt um die Ecke!
Irina plustert ihren Schwanz auf, eilt in die Baumkrone und springt von Wipfel zu Wipfel, nur schnell, um die Ecke, ja nicht das Licht verpassen!
Aber die Eile wäre gar nicht nötig gewesen – die Gestalt ist nach dem Abbiegen in einen Laden reingegangen und die ganze Zeit dort gewesen. Irina kann sehen, wie sie wieder herauskommt.
Die Gestalt erweist sich als junge Frau, die ihre braunen Haare in einem Zopf trägt, das Gesicht halb von einem sonnengelben Schal verdeckt. Sie verlässt mit einem riesigen Pappbecher in der Hand einen Laden, der mit einer weißen Frau auf grünem Grund ausgeschildert ist.
Irina erschnuppert Kaffee, Sahne, verschiedene Gewürze und Kürbis. Ein typisches Herbstgetränk. Muss sogar die Frau, die ihr Hoffnung geschenkt hat, den Herbst mit sich tragen?
Irina folgt ihr etwas langsamer, zu einer Gegend, in der die Bäume und somit auch die unauffälligen Verstecke weniger und die Menschen mehr werden.
Bis zu einem Treppenhaus voller junger Menschen.
Irina muss sich erneut beeilen, hastet von einem Fensterbrett zum nächsten, um die junge Frau ja nicht aus den Augen zu verlieren.
Die trinkt im Gehen ihren Kaffee, summt ein Lied und hat das Eichhörnchen vermutlich noch nicht einmal entdeckt.
Irgendwann kommt sie anscheinend vor ihrer Haustür an und schließt auf. Irina springt auf ein Fensterbrett, von dem sie sich sicher ist, dass es zur richtigen Wohnung gehören muss. Die Wohnung ist klein und das Fenster groß, Irina kann von ihrem Platz aus alles sehen, was die Frau tut.
Die geht zum Kalender und reißt ein Blatt ab.
Irina beugt sich vor, um sich das neue Blatt näher anzuschauen. Eine Idylle aus Wald, Blättern, Pilzen und Eichhörnchen. Und die Aufschrift „Kalendarischer Herbstanfang“. So ist es also.
Wehmütig sieht sie der jungen Frau dabei zu, wie sie eine Suppe auf den Herd stellt, ihren leergetrunkenen Kaffee entsorgt und sich einen Tee macht, das alles, ohne den Schal abzunehmen. Als wäre es in ihrer Wohnung kalt.
„Ich weiß noch nicht, warum. Aber ich werde dich beschützen. Was auch immer passiert.“ Vielleicht ist diese Frau Irinas letzte Chance auf Erlösung und ihr eigener Herbst beginnt.

 

©2017 Katherina Ushachov - Abdruck mit freundlicher Genehmigung